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„Unter den Bildern, welche sich der Mensch bei der Aneignung der Wirklichkeit macht, sind die Abbilder der Fotografie ausgezeichnet durch ihren spezifischen Anspruch auf Wahrheit...“
Die Stimme des Redners ist ruhig, fast sanft. Dem, der hier spricht, merkt man den geübten Umgang mit Worten an. Hier spricht im Grunde genommen ein Pädagoge, jedoch keiner, der blind nachplappert, was ihm offiziellerseits vorgesetzt wurde. Hier spricht jemand, der auch glaubt was er sagt. Der Redner will nicht blind agitieren - er will überzeugen.
„Da die Fotografie in die bürgerliche Kultur- und Medienlandschaft des 19. Jahrhunderts hineingeboren wurde, die beherrscht war vom ungebrochenen Elan der Industrialisierung und des technischen Fortschrittglaubens, gelang es dieser Kultur mühelos, den in diesen Bereichen gültigen Wahrheitsanspruch des Mediums auf das gesamte Blickfeld der Kamera zu übertragen. Im Ergebnis präsentierte sich die Fotografie den Volksmassen auf den Jahrmärkten, in populären Studios und in ihrem Selbstverständnis als 'wahre Abbildung der Welt'. Im Ergebnis können die Massenmedien bis heute mit einem im wesentlichen unerschütterlichen Vertrauen der Betrachter von Fotos in ihren Wahrheitsgehalt rechnen. Im Ergebnis besorgen Fotografien, Filmsequenzen und Videoaufnahmen, die doch dem Wahrheitsanspruch fotografischer Bilder verpflichtet scheinen, die Geschäfte der Ausbeuter und der Volksverdummung, hat sich die Kulturindustrie in den fotografischen Abbildern eines der vielseitigsten Instrumente zur Desorientierung über deren eigene Bedürfnisse geschaffen.“
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Der hier spricht, weilt nicht mehr unter uns. Richard Hiepe starb im Dezember 1998. Ich sitze hier im Bundesarchiv der Arbeiterfotografen, vor mir eine Reihe von Tonbandcassetten sowie einige Aktenmappen. Ich lausche noch einmal einer der faszinierenden Reden, mit denen Richard uns immer wieder mitzureißen vermochte. Es war am 27.10.1984, die Arbeiterfotografie e.V. hatte zu ihrem 4. Bundeskongreß eingeladen, der im Stuttgarter Gewerkschaftshaus stattfinden sollte. Es war die Zeit des Kampfes um die 35 Stunden-Woche, ein Thema zu dem auch der Hausherr - Klaus Zwickel - einige kritische Sätze sagen sollte. Richard Hiepe sprach über „Wahrheitsanspruch und Subjektivität in der Fotografie“ und er verstand es auch hier zu überzeugen, Optimismus zu verbreiten. „Ich kann keinen Keil sehen zwischen der fotografischen Arbeit an der Basis der Klassenauseinandersetzung und den Leistungen bekannter Profis, zwischen Arbeiterfotografie, sozial engagierter Fotografie und engagierter Kunstfotografie so wie es keine Scheidewände in meinem Arbeitsbereich zwischen revolutionärer Flugblattgrafik und den Blättern von Otto Dix und George Grosz gibt. Jeder von uns ist im politischen Kampf immer auch als Gestalter, als Schöpfer neuer Bilder, unseres neuen Menschenbildes gefordert. Der politisch entwickelte Mensch wird unweigerlich höhere Bedürfnisse an Bilder und Bildgestaltung entwickeln.“ Dies dürfe allerdings nicht dazu führen - so Hiepe 1987 auf unserem Symposium zur Zukunft engagierter Fotografie in Zierenberg - daß man/frau die Leistungen anderer, an die man selber nicht heranreiche als eine Art „Fallbeil“ betrachte. Es gelte vielmehr von ihnen zu lernen. „Ich glaube, die einzig mögliche und sinnvolle Haltung in eurer Lage, für produktive Menschen überhaupt, sich den Meisterwerken zu nähern, ist die, zu lernen. Für einen produktiven Menschen gibt es keine andere Haltung. Genuß und das alles eingeschlossen, vielleicht auch Genuß und ärger. Mir geht es so mit Beuys - Genuß an seiner politischen Haltung, Arger mit allem anderen. Aber lernen kann ich allemal auch von ihm. Ich sehe da gar nicht das Problem, das hier aufgeworfen wurde. Wenn ich Robert Capa, die großen Gestalten des 19. Jahrhunderts, Barbara Klemm und andere sehe, so kann ich, wenn ich selber gute Fotos machen will, unerhört viel von diesen Leuten lernen. Auf manchen Gebieten, vielleicht politisch, wissen wir ja sogar oft ein wenig mehr als die und das kann man ja auch einbringen.“ Fazit: „Ein guter Fotograf ist wie ein guter Maler auch immer ein Mensch, der außerordentlich viel gesehen hat, nicht nur im Leben, sondern eben unbedingt auch von dem Metier, von der Kunst, von den Leistungen anderer.“
An Richard Hiepe erinnern heißt unweigerlich auch von „Tendenzen“ zu reden. Ohne Hiepe hätte es diese Kunstzeitschrift nicht gegeben, beiden haben wir zu verdanken, daß es die heutigen Arbeiterfotografen überhaupt gibt. Tendenzen - 1960 in ähnlich bescheidener Form wie 13 Jahre später auch die vorliegende Zeitschrift gegründet - war ein Forum für engagierte Kunst und sie war mehr. In Tendenzen war schon sehr früh von Fotomontage, schließlich auch von Fotografie die Rede. Zum Jahreswechsel 1972/73 erschien gar ein ganzes Heft zum Thema, das man getrost als die Geburtsurkunde der heutigen Arbeiterfotografie ansehen kann. Es gab noch keinen Fotomonteur Klaus Staeck, als Richard Hiepe 1965 die Fotomontage nach Heartfield kritisierte und mehr Qualität einforderte. Drei Jahre später beleuchtete er erstmals genauer die Fotografie, viele weitere Aufsätze zu diversen Aspekten dieses Mediums sollten folgen. Ab 1973 begleitete Tendenzen die sich bildende Arbeiterfotografenbewegung solidarisch, druckte erste Erklärungen ebenso wie just entstandene Fotos ab, übte Bildkritik und publizierte schließlich auch Grundsatzerklärung samt Bericht über den Gründungskongreß 1978. Das Grundsatzreferat in Essen hielt übrigens Richard Hiepe, nachdem sein Entwurf diskutiert und geringfügig überarbeitet worden war. Daß ein derart versierter Kenner der Materie (nicht nur) bei den Arbeiterfotografen ein gefragter Diskussionspartner war, beweisen zahlreiche Anfragen, die Hiepe abschlägig beantworten mußte. Auch 1984 war seine Zusage mit der Sorge verbunden, noch rechtzeitig zum nächsten Termin zu kommen, der bereits am nächsten Tag in Dresden wahrzunehmen war. Trotz dieser Nachfrage in West wie Ost gelang es ihm noch eine Reihe von Büchern zu schreiben, deren erstes bereits 1960 in Frankfurt erschien und sich mit Kunst im Widerstand 1933-1945 beschäftigte. „Die Kunst der neuen Klasse“ war ein weiterer Titel, der sogar bei Bertelsmann erschien. „Arbeiter in der Fotografie“ hieß ein weiterer, „Riese Proletariat und große Maschinerie“ schließlich der für uns wohl wichtigste zum gleichen Thema, Titel auch der Ausstellung, durch die er 1984 nach seinem Referat auf unserem Kongreß in Stuttgart führte. Viele von uns erlebten das erste Mal eine solche Ausstellungseröffnung mit, etwas, das man erlebt haben muß und das man nicht beschreiben kann.
Hiepe hatte sich in München eine kleine Kunstgalerie aufgebaut, wobei dieser Begriff auch schon zu undeutlich ist, denn es ging ihm nicht um das reine Ausstellen von Bildern, sondern er wollte Kunst unters Volk bringen und das im wahrsten Sinne des Wortes. Ob in einer Kunstgalerie oder öffentlich auf dem Marktplatz - wichtig war ihm die Vermittlung dessen, was er ausstellte, die Anknüpfung an längst verschüttete Erinnerungen „normaler“ Menschen, das Bewußtsein daß Kunst nichts mit Dekadenz und “Elfenbeinturm“ zu tun hat (haben muß), sondern auch von Leuten „wie Du und ich“ geschaffen werden kann. Es waren denn auch nicht die „berühmten“ Namen, die er ausstellte, sondern bei ihm konnte man gerade die Unbekannten entdecken, junge Künstler und bereits Vergessene, die er diesem Vergessen wieder zu entreißen verstand. Er stellte nicht nur aus, sondern baute ab Mitte der 60er Jahre einen „Grafikkreis“ auf, wo jeder für Preise, die heute ein Taschenbuch kostet, limitierte handsignierte Grafiken erwerben konnte. Auflagen von 100 Exemplaren und Preise von 20 Mark waren dabei keine Seltenheit. So bspw. Bücher des nach Argentinien emigrierten Clement Moreau mit Bildern aus den 30er Jahren für 10 Mark, Vorwort Heinrich Böll und vom Künstler signiert - all das gab es mal...
Hiepe war Marxist, ein „überzeugungstäter“, wie man aus dem Gesagten unschwer erkennen kann, jemand der zwischen Wort und Tat keinen Unterschied machen wollte. Schon früh war ihm der Weg an die Hochschulen und Universitäten verbaut worden, wo sich (und nicht nur dort) längst wieder die schon im braunen Regime (genauer: mit der braunen Uniform) groß gewordenen „Eliten“ breit gemacht hatten, die es gar nicht schätzten, daß ein kleines Blättchen wie die frühen Tendenzen an der frisch getünchten Oberfläche zu kratzen begann und, wo das nicht half, sogar Fotos ausgrub, die derartige Magnifizenzen mit den Oberen des Dritten Reiches zeigten.
Der Bann legte sich etwas mit der Studentenbewegung Anfang der 70er Jahre, aber auch hier waren höchstens Gastvorlesungen drin, die mehrfach durch Proteste Ewiggestriger unterbunden wurden - kurz: das unfeine aber sehr treffende Wort Berufsverbot machte auch und gerade vor Richard Hiepe nicht Halt. (Eine in den 70ern erschienene Broschüre dokumentierte dies aufs Genaueste.) Was bliebe noch zu sagen über jemanden, der den Arbeiterfotografen sogar die Aktfotografie schmackhaft(er) zu machen versuchte? Es wäre zu viel, als daß es den beschränkten Raum, der mir zur Verfügung steht, nicht sprengen würde. Ich übergebe das Wort deshalb an Richard selber; möge der Leser oder die Leserin sich aus einigen wenigen willkürlich ausgewählten Artikeln ein eigenes Bild machen von einem Freund, der nun nicht mehr unter uns weilt.
Peter Mönnikes, 1999
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