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Mario Giacomelli, bekannt als der Fotograf der starken Kontraste, der Unschärfen und der grafischen Gestaltung seiner Fotos, lebt und arbeitet - nunmehr 73-jährig - als Drucker und Campingplatzleiter im Adriastädtchen Senigallia. Mit der AF-Nummer über Italien unterm Arm, besuchte ich ihn im Oktober 1998 und konnte ihn während eines Rundganges durch seinen Heimatort über seine Fotografentätigkeit befragen.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Sie einer der bekanntesten italienischen Fotografen sind. Ausstellungen in England, Frankreich, den USA und Deutschland zeugen von diesem Weltruhm.
Es gibt Menschen, die haben mehr und andere weniger Glück im Leben. Aber das sagt überhaupt nichts über ihre Fähigkeiten. Wenn ich von meinem Bekanntheitsgrad lese, dann frage ich mich, ob ich wirklich die Person bin, von der man schreibt. Ich bin überzeugt, dass ich wie all die anderen bin, ich habe nie daran gedacht, der Größte oder der Kleinste zu sein. Aber auf der anderen Seite existieren diese Kategorien.
Für mich ist es sehr interessant, dass Sie als weltberühmter Fotograf immer noch in ihrer Druckerei hier am Ort arbeiten.
Meine Arbeit ist die eines Grafikers und eines Druckers, ich bin ein Arbeiter-Fotograf. Im Sommer leite ich noch ein Touristendorf und einen Campingplatz. Dann gibt es noch die Familie und die Kinder mit ihren Problemen. Um zu fotografieren, muss ich mir den Raum und die Zeit von diesen Aufgaben rauben. Ich bin wirklich der Sonntags-Fotograf, so wie die Kritiker schreiben. Ich fotografiere am Sonntag und im Winter, wenn es keine Arbeit auf dem Campingplatz gibt.
Diese Beschreibung hört sich fast wie das Portrait eines Hobby-Fotografen an und nicht wie das eines Welt-Fotografen.
Ich fotografiere, weil ich es brauche zu fotografieren. Es ist ein Bedürfnis, es ist meine Art die Dinge und das was ich will zu verstehen. Ich spüre meine Nervosität wenn ich nicht fotografiere. Jeden Tag, den ich nicht fotografiere, sag ich mir, dass es ein verlorener Tag ist. Fotografieren ist eine Aufgabe, die aus mir selbst kommt. Ich arbeite nie im Auftrag, das könnte ich nicht. Ich brauche die Freiheit, mich selbst in der Fotografie auszudrücken. Ob es Kunst ist weiß ich nicht. Ich weiß, dass man für meine Fotografien in der Welt viel Geld bezahlt, aber nicht an mich, sondern an meinen Galeristen in Mailand.
Aus welchem Motiv haben Sie angefangen zu fotografieren?
Als ganz junger Mensch habe ich nie eine Fotokamera besessen, ich wußte nichts von der Fotografie. Mein ganzes Interesse galt dem Motorradsport. Ich wollte nichts anders wissen als Motorräder, Wettbewerbe und besser und schneller zu sein als die anderen. Mein Geld sparte ich für eine schnelle, moderne Maschine. Es war kurz vor Weihnachten, als ich hier in Senigallia an einem Fotogeschäft vorbeikam. Das Geld für ein gebrauchtes Motorrad in der Tasche, mit dem Wissen, im Wettkampf um die schnellste Zeit auch sein Leben zu lassen, trat ich in das Geschäft und folgte einer spontanen Eingebung, als ich anstatt dem Motorrad meine erste Kamera kaufte. Ich verstand nichts von der Fotografie und bin mit dem Gedanken, ein Fischerboot aufzunehmen, an den Strand gegangen. Vor dem Meer stehend wußte ich nicht, was ich fotografieren sollte. Das Meer fotografieren ja alle, und ich schaute dahin, wo die Wellen am Strand ausliefen, und ich dachte mir: Wenn ich die Kamera bewege und den Wellen folge, dann stehen die Wellen auf dem Foto still und der Sand bewegt sich. Von den sechzehn Fotos, die ich mit meiner Mittelformatkamera machte, sind nur zwei etwas geworden. Zuvor hatte ich mich in Malen und Gedichte schreiben versucht, doch ohne Erfolg, jetzt versuchte ich, den Fotoapparat wie einen Pinsel zu verwenden. Meine Erfahrung mit der Malerei hat mir bei der Gestaltung meiner ersten Fotos geholfen.
So wie Sie die Entstehung Ihrer ersten Bilder beschreiben, könnte man vielleicht sagen, dass hier Ihr sehr persönlicher subjektiver Fotografie-Stil entstanden ist?
Wenn ich eine Landschaft fotografiere, dann bilde ich sie nicht ausgebreitet ab, so wie es alle tun. Ich nehme sie von oben auf, so erscheint sie einem gegenüber, als sei sie eine Tapete an der Wand. Das ist meine, ja subjektive Art, die Dinge zu sehen. Aber es bleibt immer die reale Landschaft.
Aber Sie verändern die Realität, Sie spielen mit ihr.
Ich habe mit ihr gespielt, weil wir miteinander gespielt haben. Aber auf meinen Fotos ist immer die Realität zu sehen, die Realität, so wie ich sie sehe. Die Dinge, die jeder sieht, kennt jeder, die brauchen keine Erläuterung. Nehmen wir als Beispiel mein Foto mit dem Mann, der den Ackerboden bearbeitet, es ist nicht nur das was man sieht, sondern noch mehr. Es ist der Arme, der in gleißender Sonne den Boden bearbeiten muss, um sich sein Brot zu verdienen, er muss schwitzen und sich anstrengen, um zu leben. Sicher habe ich das Foto im Ausschnitt vergrößert und die Kontraste gesteigert. Ich wollte, dass das Weiß, das Licht seine Haut aufschneide. Die Haut eines Bauern kann eben nicht die gleiche Tonalität wie die eines Bankangestellten haben. In meinen Fotos soll man die Sonne unter der der Bauer die Erde bearbeitet spüren. Schwarz und Weiß spiegelt auch den Rhythmus in seinem Leben wider, die Auseinandersetzung mit der Natur. Die Ursprünglichkeit dieser Form der Arbeit möchte ich mit einfachen Mitteln zeigen, weil sie mich interessiert. Die Arbeit des Angestellten finde ich dagegen langweilig, Geld zählen und addieren von Zahlen ist keine Arbeit die ich fotografiere. Manche sagen, ich sei kein Realist, aber was sind dann meine Fotografien aus dem Altersheim? Wenn das kein Realismus ist. In diesen Fotos habe ich nichts verändert, außer, dass ich ein Blitzlicht verwandte. In diesem Fall wäre ein Fotografieren ohne Blitzlicht, ein Foto mit Grautönen eine Verfälschung gewesen. In den neun Jahren, in denen ich immer wieder in dem Heim fotografiert habe, habe ich mich intensiv mit der Angst vor dem Tod beschäftigt und ich wollte mehr von dieser Angst verstehen. Ich wollte die Finger in die Wunde des Elends dieser Alten legen und doch konnte ich nicht das ganze Elend fotografieren. Die Alte ohne Zähne, der die Suppe immer an langen Speicherfäden aus dem Mund rann, der verzweifelte Blick eines grauhaarigen in sich gesackten Mannes, das waren Eindrücke, die ich nicht zu Fotos machte. Aber auch sie haben die ganze Arbeit beeinflusst. Meine Fotos werden von dem was ich sehe und von dem was ich empfinde bestimmt. Ich glaube das was ich sehe, und in dem Altersheim habe ich die Realität gesehen, die Realität der Verzweifelten und die habe ich versucht zu fotografieren. Ich versuche die Realität unvoreingenommen zu sehen und zu verstehen. So entstehen dann meine Fotografien, also bin ich doch ein realistischer Fotograf!
Welche Projekte haben Sie danach gemacht?
Als ich die Serie im Altenheim abgeschlossen habe, als mir der Ort keine neuen Eindrücke mehr vermittelte, war ich kurze Zeit später in Lourdes und sah dort ähnliches Leid. Doch in Lourdes sah ich auch die große Hoffnung der Menschen. In Lourdes sollte ich für eine schweizerische Zeitschrift fotografieren. Als ich ankam habe ich einige Fotos von oben gemacht, bevor ich zu den Kranken ging. Als ich unter ihnen war, sah ich verstümmelte Kinder, eine Frau ohne Gliedmaßen im Rollstuhl, ich empfand das ganze Leid dieses Ortes. Ich bin unter ihnen geblieben, jedoch war ich nicht fähig, auch nur ein Foto zu machen. Ich habe dort für meinen Sohn, der eine Behinderung hat, gebetet. Als ich das erste Mal in Lourdes war, habe ich ganze drei Fotos gemacht, die von oben aus großer Entfernung.
In unserem Heft über Italien haben wir ein Foto von Ihnen aus Scanno abgedruckt. Spürten Sie auch während Sie in Scanno waren das Leid und die Verzweiflung der Menschen dieses archaischen Bergdorfes?
Nein, dort wollte ich keine Verzweifelung zeigen. Scanno war fast ein Traum. Dort ist eine Welt wie ich Sie mir erträume. Ich habe die Freude des Lebens fotografiert. Sicher ein bisschen Hoffnungslosigkeit ist immer in meinen Fotos, weil Sie eben immer in mir ist. Ich habe meinen Vater sehr früh verloren und das Leben ist nicht einfach gewesen. Ich kann nicht einer dieser Vergnügten sein, die nach Scanno kommen und ausrufen „Wie schön, schau die Schafe auf der Straße“, das ist nicht meine Art. Ich weinte fast vor Glück als ich in Scanno war, weil ich wußte, dass die Momente die ich erlebte nicht ewig dauern. Ich dachte daran, dass unsere Kinder nie solch eine Schönheit sehen werden. Und als ich die Sonne sah wurde ich noch glücklicher. Immer wenn ich die Sonne sehe bin ich glücklich. Die Sonne ist das Weiß. Das Weiß ist die Magie des Lebens. Das Schwarz ist nur dort, um dem Weiß mehr Geltung zu geben, um es hervorzuheben. Viele setzen Schwarz gleich mit Unglück und Trauer. Ich kleide mich immer schwarz und denke dabei an das Leben. Im Schwarz ist alles, aber man muss es entdecken. Es genügt ein Lichtstrahl, und du spürst das Leben, das im Schwarz steckt. In Scanno gab es Sonne, die wichtig für meine Fotos ist. Und falls in meinen Fotografien aus Scanno etwas hoffnungsloses zu spüren ist, dann wäre ich glücklich, vielleicht wäre es die Wahrheit. Ich möchte damit sagen, das ich in diesem Moment mehr fotografiert habe, als mir bewußt war. Meine Fotografien zeigen immer ein Stück von meinem Inneren. Ich bin oft nach Scanno zurückgekehrt. Das letzte Mal vor zwei, drei Jahren. Doch ich bin enttäuscht: das Scanno, was ich fotografierte, existiert nicht mehr. Aber auch das ist Fotografie, sie gibt Zeugnis von dem, was es nicht mehr gibt.
Als Sie gerade von der Bedeutung von Schwarz und Weiß sprachen, dachte ich an die typischen harten Kontraste ihrer Fotografien, die ja oft nur aus Schwarz und Weiß bestehen. Sofort kamen die Bilder Ihrer Serien der Priester vor mein inneres Auge.
Ja, aber diese Serie hat eine andere Entstehungsgeschichte. Ich bin mehrere Tage in diesem Priesterseminar gewesen, ohne dass mir ein gutes Foto gelungen wäre. Dann hab ich eines Tages ein junges, hübsches Mädchen kennengelernt, und die Schönheit dieser Frau hat mich in eine besondere Stimmung versetzt. Es war ein Tag mit Schnee, als ich die Fotos machte. In dieser Serie sind nicht nur meine eigenen Empfindungen sondern besonders auch die Gefühle der Fotografierten eine entscheidende Sache. Ich habe mich mit dem Leben der Seminaristen auseinandergesetzt und meine eigenen Befindlichkeiten zugelassen. Ein Fotograf muss von dem, was er fotografiert, etwas verstehen und er muss sich seiner eigenen Rolle im fotografischen Prozess bewusst sein. Er interpretiert die Realität. Man sagte mir einmal, dass ich diese Serie der Priester montiert und manipuliert habe. Manipuliert sicher, ich habe hartes Papier gewählt und die störenden Zeichnungen weggewedelt. Zum Beweis hab ich die oft publizierten Bilder mal auf weicher Fotoemulsion ohne besondere Eingriffe vergrößert. Doch diese Fotos gefallen mir überhaupt nicht, weil sie nicht meine Erfahrungen während des Fotografierens widerspiegeln. Das Schwarz spielt in diesen Fotos eine wichtige Rolle. Also wie ich sagte, bin ich voller Gefühle des Verliebtseins eines Tages ins Seminar gekommen. Ich habe dort einen Bauern in seinen schwarzen Sonntagskleidern fotografiert. Er besuchte dort seinen Sohn, der Sohn weinte. Dieses Foto ist nicht in der Serie, ich habe es für mich behalten. Es gibt nichts traurigeres als dieses Foto, der Bauer scheint noch mehr Bauer und der weinende Sohn ... Ich habe mich gefragt, ob er nicht glücklicher wäre als Bauer, draußen und frei? Aber dann habe ich mein Leben mit dem ihren verglichen. Dort im Kloster ist das alltägliche Leben einfach und geregelt ... Alle Seiten haben zwei Seiten, es gibt immer etwas Gutes und etwas Schlechtes. So werden diese Seminaristen nie die weiche Haut eines Mädchens spüren. Aus meinen Gefühlen aus der Begegnung mit dem hübschen Mädchen kurz zuvor ist mein Foto eines Seminaristen entstanden, dem ich den Titel gab „Ich habe keine Hände, die mein Gesicht liebkosen“. Ein Fotograf muss immer etwas von dem Leben, von der Situation verstehen, in der er fotografiert. Es reicht nicht aus, eine alte Frau, die auf den Hausstufen sitzt, zu fotografieren, es sei denn die Situation erzählt etwas von dem Leben der Frau, dem Leben auf den Stufen. Es kann von einem Dorf erzählen, wo alle alten Frauen auf den Stufen sitzen, solche Fotos habe ich auch in Scanno gemacht.
Unsere Zeitschrift „Arbeiterfotografie“ widmet sich der Sozialfotografie. Wir wollen mit der Fotografie in gesellschaftliche Prozesse intervenieren und soziale Probleme ansprechen. Was denken Sie über diese Art von Fotografie?
Ja, es kann auch die Aufgabe der Fotografie sein, aber nicht die einzige. Wenn ich fotografisch über gesellschaftliche Dinge „sprechen“ möchte, dann gehe ich auf die Piazza und fotografiere die Menschen, die Arbeiter und Bauern. Aber es ist nicht richtig, den Bauern nur als Arbeiter auf dem Feld zu zeigen, er hat auch ästhetische Bedürfnisse. Man muss ihn auch zeigen, wie er am Abend die Zeitung liest oder sich mit der Lektüre eines Poesiebandes erholt. Man muss zeigen, dass das Leben nicht nur aus Arbeit besteht, dass der Arbeiter oder Bauer genausoviel, wenn nicht mehr ästhetisches Empfinden hat als die aufgeblasenen Dickbäuchigen.
In den letzten Jahren hat sich viel in der Fotografie geändert. Ein typisches Beispiel ist die digitale Fotografie und die Möglichkeit, am Computer das Foto zu gestalten und zu manipulieren.
Wir sind dabei, die schönsten Dinge zu verlieren. Sicher muss es eine Weiterentwicklung geben, aber das, was sich verändert, macht mir Angst. Wir verlieren den Kontakt mit der Natur, mit der Wirklichkeit. Dieses ganze technische automatisierte in der Fotografie ekelt mich an. Wenn jemand was zu sagen hat, dann ist nicht seine perfekte technische Ausrüstung wichtig. Ich benutze immer noch meine alte Kamera aus den 50er Jahren, die mich mein ganzes Leben begleitet hat. Auch eine Maschine hat ihre Empfindsamkeit, die man respektieren sollte. Alles, was ich gemacht habe, hab ich mit dieser Kamera gemacht. Warum sollte ich sie wegwerfen, nur weil sie alt ist. Auch ich bin alt, und nun ... Ich möchte niemals Sklave der Technik sein. Ich möchte entscheiden, was ich wie fotografiere, und nicht der Computer.
Aber auch Sie verändern Ihre Fotos im Labor?
Ich habe nie die Realität im Labor manipuliert. Weder habe ich mit Fotomontagen, noch mit Sandwiches mehrerer Negative gearbeitet. Die einzige Veränderung der Realität ist die, dass ich in meinen Fotos meine eigenen Fotografien verarbeite. Ich habe Bilder von Tauben oder Hunden gemacht, sie lebensgroß vergrößert und auf Pappe in Szene gesetzt. Wenn die Betrachter der Fotos dann diese Tiere schön und lebendig finden, finde ich mich in meiner Absicht bestätigt, mit der Fotografie den Tod zu überwinden. Besonders in meinen Aufnahmen aus den letzten Jahren ist diese Kombination verschiedener Realitätsebenen auszumachen. Aber jedes Foto ist ein Original, für jede Komposition existiert ein eigenes Negativ.
Unsere aktuelle Nummer der Zeitschrift Arbeiterfotografie widmet sich der bekannten aber insbesondere der weniger bekannten Fotografie in Italien.
Ich bin sehr erfreut, dass Sie meine Fotos publiziert haben. Ich weiß nicht zu welcher Gruppe ich gehöre. Schön finde ich es, aktuelle Fotos über Scanno zu sehen. Für mich waren meine Aufenthalte in dem Abruzzendorf sehr inspirierend. Scanno als Dorf der Fotografen, hat nicht nur Cartier-Bresson, Gianni Berengo Gardin, Paolo Monti und mich beeinflusst, es wirkt bis heute auf die Fotografie, wie die Bilder von Giovanni Bucci beweisen.
Welche Zukunftspläne haben Sie?
Ach, ich mache verschiedene Ausstellungen oder es werden Ausstellungen mit meinen Fotos gemacht. Ich kann Sie nicht alle besuchen. Derzeit bereite ich eine Ausstellung für Mailand vor, die den Gedichten „Die Unendlichkeit“ und „An Silvia“ von Leopardi gewidmet ist. Aber ich mache auch noch verschiedene andere Ausstellungen auch im Ausland. Es gefällt mir, beschäftigt zu sein, das gibt mir das Gefühl, doch nicht meine ganze Zeit für die Fotografie vergeudet zu haben. Es ist nun so, als hätte man etwas geschaffen. Zu meinen letzten Fotos sagen viele, dass ich nicht mehr vorwärts gehe, ja dass ich in meiner Fotografie zurückgehe. Ja vielleicht ist es so, aber ich fühle mich gut dabei. Warum muss man immer weiter gehen? Die Natur ist wunderschön, aber der Mensch ist es nicht. Der Mensch fährt fort, alles schlecht zu machen, alles zu verschlimmern. In diesen Tagen hörte ich eine Nachricht, dass sie Flüchtlingskinder ins Meer geschmissen haben. Wie ist es möglich, dass solche Dinge passieren? Vor zwanzig Jahren hörte ich eine Nachricht, dass man in Frankreich ein Kind entführt hatte und ich konnte es nicht glauben. Und heute? Es wird immer schlimmer. Wir gehen zurück. Der Mensch wird immer gefühlloser und lebt nur noch für Geld und Profit. Man hält nicht mehr ein um nachzudenken, um über das Leben zu reflektieren. Bei diesem ganzen Reichtum der Erde spricht man noch von Krieg? Sollte man nicht über Kultur und Fortschritt sprechen? Aber wo, wenn man von Krieg spricht? Der Mensch entwickelt sich immer weiter zurück. Ich habe viele Ideen im Kopf, aber es gelingt mir nicht mehr, den Menschen so zu fotografieren, wie ich es einst tat. Einst ging ich auf die Suche nach der Trauer, um zu verstehen, warum solche Dinge existieren. Diese Fotos würde ich heute nicht mehr machen. Kein Altenheim und kein Lourdes mehr! Auf meinem Weg habe ich gesehen, dass Leid und Hoffnungslosigkeit überall existieren und die Realität noch viel schlimmer ist als Lourdes und das Altersheim. Heute zerstört der Mensch immer weiter die Welt, und da gebe ich ihr mit „meiner Realität“ neue Vitalität, wenn ich Plüschhunde und Papptauben zu Leben erwecke. So wie es wahr ist, dass die Dinge die ich fotografiere, falsch sind aber wirklich erscheinen, so ist das, was eigentlich falsch erscheint, die ganze Wahrheit. Alle halten meine fotografierten Hunde für lebendige Hunde. Aber die Menschen merken nicht, dass es wahr war, dass Kinder ins Meer geworfen wurden! Wir leben in einer Welt, die mich anekelt und sie könnte so schön sei. Unter diesem Eindruck sind meine letzten Fotos entstanden, in denen ich falsche Dinge zum Leben erwecken wollte, ihnen einen neuen Sinn geben wollte. Ich möchte mich wohl fühlen, wenn ich Bilder betrachte. Ich will nicht mehr das ganze Leid und die Gewalt sehen, ich halte sie nicht mehr aus: die Fotografien, die vor Blut triefen. Doch ich fotografiere weiter.
Vielen Dank für das Interview.
Die besten Grüße an die deutschen Fotografen aus Senigallia.
Das Interview mit Mario Giacomelli führte Siegfried Bresler am 12.10.98 in Senigallia (Italien) auf italienisch und fasste es in die vorliegende deutsche Fassung zusammen.
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