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Germute von Müller:
ein Bild, das mir wichtig ist

Indien, 1981

Germute von Müller, Solingen (ehem. Redakteurin der Zeitschrift Arbeiterfotografie):
Wenn mich etwas nachhaltig bewegt, dann sind es Portraits und Menschen und nicht politische Parolen auf einem Transparent. Die mögen eine dokumentarische Bedeutung haben, aber für das Medium Fotografie ist das vollkommen uninteressant. Es sind die Menschen, die mich beeindruckt haben, von denen ich bei meinen Reisen etwas nach Hause zurückbringen wollte. Vieles ist mit einem Foto besser zu erklären als mit Sprache. Es geht mir darum zu zeigen: wie leben die Menschen - auch im Vergleich zu anderen Ländern. Auch unter den Bedingungen der Armut, des Hungers und der Ausbeutung muß der Mensch nicht seine Menschenwürde verlieren. Ich habe immer versucht, den Kontakt zu den Dargestellten aufzunehmen, zumindest den Blickkontakt, nicht heimlich zu fotografieren, so daß der Dargestellte die Chance hat, ein Stück von sich selber zu zeigen, sich so zu zeigen, wie er gerne gesehen werden möchte. Es war am Straßenrand, wo das Bild von diesem Jungen entstanden ist. Er hat Säcke geschleppt. Kinderarbeit. Diese Art von Bild ist auch die Reaktion auf einen Bekannten, der zwei Jahre zuvor in Indien war und nur Landschaftsbilder mit nach Hause gebracht hat. Ich habe mir gesagt: es kann doch nicht sein, daß die Menschen auf diesen Bildern fehlen. Landschaftsbilder aus allen Ecken der Welt gibt es schon genügend.
Was mich an einer Reaktion freut, ist, wenn die Unmittelbarkeit der Bilder den Betrachtern auffällt und sie sagen: die Dargestellten gucken dich an; man sieht, daß du mit denen Kontakt hattest; wie hast du das gemacht? Es ist zweierlei: das, was man im Kopf hat, und das, was man in den Bildern davon wiederfindet. Deshalb ist es nicht selbstverständlich, wenn mein Ansinnen erkannt wird.
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Weder durch Armut, Dreck und Elend ist sie antastbar. Das denke ich, macht dieses Bild deutlich. über das äußere allerdings in das Innere des Menschen hineinschauen zu wollen, wäre vermessen. Das Bild besagt letztlich auch nicht viel über die politischen Verhältnisse in Indien. Vielleicht macht es nur deutlich: mir sind Menschen begegnet, die nicht darauf angewiesen sind, daß ich voller Mitleid durch das Land fahre. Wogegen ich mich wehre: wenn Menschen in Bildern zum Dekor werden, zum Beispiel, um zum Spenden aufzufordern, oder wenn dem Betrachter das Gefühl gegeben wird: ach, die armen Menschen. Wenn die Bilder dazu mißbraucht werden, Mitleid zu erregen, ist das etwas, was mich ärgert. Zu bewirken, daß jemand alles ganz schrecklich findet, 3 Mark 50 spendet und sich dann aus der Verantwortung stiehlt, ist mir zuwenig. Dieses Bild - hoffe ich - ist nicht zum Erregen von Mitleid zu mißbrauchen.
Ich habe nach vier, fünf solcher Reisen wie der nach Indien beschlossen, nicht mehr in diese Länder zu fahren: es ist nicht mein Ding, dort als Tourist herumzulaufen. Dennoch: die gewonnenen Erfahrungen waren für mich unendlich wichtig. Ich sitze bei einer Reise in einem Café in einer Kleinstadt, will einen Frühstückskaffee trinken und ein Brötchen essen. Auf einmal stehen fünf Kinder um mich herum und beobachten mich dabei. Das ist ein völlig anderes Erleben als vor dem Fernseher zu sitzen und so das Elend der Welt zu betrachten. Du bist gezwungen, eine Entscheidung zu treffen, das Brötchen selber zu essen oder es zu verteilen. So war das Erleben dieser Menschen für mich ein Grund zu sagen: hier gehe ich nicht wieder her, sondern mache politische Arbeit zuhause, kümmere mich zuhause z.B. um Entwicklungspolitik. Allerdings denke ich schon, daß Fotografieren dazu führt, daß du genauer hinsiehst, daß man Menschen anders anguckt. Es war für mich wichtig zu erkennen, daß in dem Land, aus dem ich komme, etwas verändert werden muß. Ich rede heute noch mit den Leuten und erkläre ihnen, warum ein Pfund Kaffee 30 Mark kosten müßte.
Allerdings: ich glaube, daß der Mißbrauch von Fotos nicht gänzlich zu verhindern ist. Selbst ein Bild wie das Ende der 60er Jahre entstandene Bild mit dem Mädchen, das vor dem Napalm flieht, ein Bild, das zum Umdenken in Sachen Vietnamkrieg beigetragen hat, läßt sich mißbrauchen. Ein Foto kann nicht so eindeutig sein, daß es nicht zweckentfremdet werden kann. Manchmal weiß ich nicht, ob man heutzutage mit Bildern überhaupt noch etwas bewirken kann. Jugendliche sind heute derart mit Sinneseindrücken zugeschüttet, daß ich daran zweifele, ob mit ruhigen, unspektakulären Bildern etwas zu bewegen ist. Eine Auseinandersetzung mit Fragen der Ethik findet angesichts solcher Bilder kaum mehr statt. Ich komme mir immer mehr wie ein Relikt vor - wenn ich erwarte, daß ich bei den mit Eindrücken überfütterten Menschen etwas auslöse.