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Bernd Racherbäumer, Bad Salzuflen (Pädagoge an der VHS, ehemals AF Detmold):
Eine Gruppe älterer 'Herrschaften' und eine Dame, deren Aufmerksamkeit mehrheitlich auf Ereignisse außerhalb unseres Blickwinkels gerichtet ist. Kleidung, Haltung und Aussehen der Personen, sowie die wenigen Informationen zu ihrer 'Umwelt', die im Bild zu finden sind, verlegen die Szene offenbar ins südliche Europa. Der Zeitungsleser weiß - wie so häufig - mehr, und über eine Verspätung ('il ritardo'), welche auch immer, befinden wir uns in Italien. Unglaublich der Pflegezustand der Schuhe des 'Signore' im Zentrum des Bildes. Ob er die wohl selber putzt? So trägt Man(n) die Socken! Nur sein Nachbar schenkt (uns) dem Fotografen Beachtung. Sichtlich amüsiert signalisiert er mit einem komplizenhaften Lächeln offenbar Einverständnis mit der Aufnahme. (Vielleicht kennt er ja auch den Fotografen?)
Ende der Geschichte? Vermutlich - falls wir keine weiteren, für uns interpretierbaren Informationen finden. Ist unsere Wahrnehmung doch so strukturiert, daß wir nur das wirklich erkennen (besser: rekonstruieren) können, was wir ohnehin schon kennen bzw. zumindest zu kennen glauben. Hier hilft uns der Fotograf weiter. Mit dem Titel 'Auf der Piazza' macht Siegfried Bresler klar, daß wir mit unserer ursprünglichen Annahme, hier eventuell die Bewohner des Altenheimes von San Gimignano im Bild zu finden, eher falsch liegen. Mit dieser zusätzlichen, sprachlichen Information haben wir das nötige 'Werkzeug', den vom Fotografen vorgegeben Bildausschnitt zu sprengen und unsere persönliche Bildgeschichte weiterzuverfolgen. Diese muß nicht notwendigerweise im Widerspruch zur Intention des Bildautors stehen!
Über den Schlüsselbegriff Piazza realisieren sich für mich z.B. nicht primär die räumlichen Strukturen irgendeines Platzes, sondern ich assoziiere damit eher ein vielfältiges Geflecht spezifischer Mentalitäten, kultureller Eigenheiten und sozialer Strukturen, wie ich es aus eigener Anschauung, aus Erzählungen und/oder aus der Literatur kenne - oder zu kennen glaube. Danach ist die Piazza zentraler Ort des (südlichen) urbanen Lebens. Handelsplatz nicht nur für Waren und Güter, sondern immer auch 'Markt' für Informationen, Meinungen und Lebensstile. Ort, der für die einen zur Bühne notwendiger Selbstdarstellung wird, während sich andere (vorübergehend) in der Rolle als Zuschauer und Kritikern gefallen. (Breslers Foto zeigt uns hier augenscheinlich Teile des Zuschauerranges).
Zusatzbemerkung : Wenn es zulässig ist, die Piazza auch als Ort zu interpretieren, an dem 'Sehen und Gesehenwerden' eindeutig sozial und kulturell legitimiert sind, entlastet das naturgemäß auch die ansonsten ja nicht so unproblematische soziale Situation des 'Fotografierens und Fotografiertwerdens'. Möglicherweise deshalb auch das zustimmende Lächeln unseres Freundes in der Bildmitte? Eine Interpretation. Aber natürlich nicht die ganze Wahrheit. Wenn wir jetzt nämlich für einen Augenblick den vom Fotografen vorgegeben Bildausschnitt in der Blickrichtung der Gruppe verlassen, werden wir an der nächsten Einmündung zur Piazza ein riesiges Wohnmobil sehen, das sich hoffnungslos in der viel zu engen Gasse verkeilt hat. Der Fahrer, rotgesichtig, steht daneben und versucht verzweifelt, Anwohnern, Zuschauern und Carabinieri zu erklären, daß sein Gefährt tatsächlich nicht breiter als 2 m ist. Was also ist der Grund des Amüsements unseres schon mehrfach erwähnten Freundes? Ein Blick auf das Nummernschild des Havaristen hat ihn über dessen Nationalität aufgeklärt. Unsere kennt er ohnehin. - Tedeschi!!!
Schlußbemerkung : Ich mag Fotos, die sich dem vordergründigen Zugriff entziehen. Die sich gegen ein glattes 'Gelesenwerden' sträuben und somit einen Teil ihrer Geheimnisse und ihres Eigenlebens nicht preisgeben!
Karin Davids, Gütersloh (Kunstlehrerin):
Nicht erst bei der Schlagzeile 'Scusate il ritardo' weiß ich, daß diese Fotografie mich nach Italien führt. Vorher hat mein Blick bereits die Menschengruppe abgetastet, die eleganten schwarzen Lederschuhe zu hellen Hosen und luftigen Hemden registriert, hat fein gezeichnete südliche Gesichtszüge und einen rustikalen Dickschädel wahrgenommen, hat die massiven Mauern, die die Szenerie rahmen, quasi befühlt.
Die Blickachse des Fotografen kreuzt diejenige der sitzenden Figuren. Fast wirken die Menschen, als seien sie für ein Figurenbild komponiert. Doch der Fotograf hat nicht gesucht, sondern gefunden. Mit sicherem Instinkt hat er einen fruchtbaren Augenblick genutzt, das Abgelenktsein der Menschen in einer größeren Menge, ihr Interesse für etwas, das sich außerhalb des Bildes ereignet, hat er aufgegriffen, um den Spiegel dieses Ereignisses in ihren Gesichtern festzuhalten.
Was kümmert ihn, ob der Pantalone der Commedia dell'arte mit dicken Stiefeln über den Platz stapft, ob zwei Marktweiber sich streiten oder ob gerade ein Auto abgeschleppt wird. Irgendetwas halb Komisches, halb Groteskes, etwas, das es womöglich zu mißbilligen gilt - wie das 'Urgestein' rechts - oder aber auch zu ignorieren ist - wie der Zeitungsleser links - muß sich dort ereignen. Und wir dürfen aus der Position des Fotografen in aller Ruhe die Reaktion der Menschen darauf beobachten.
Den Fotografen interessiert die Leichtigkeit dieses südlichen Seins, die sich uns Betrachtern vermittelt, trotzdem wir Spuren von Krankheit und schwerer Arbeit in Gesichtern und Körpersprache lesen können. Es ist die Gelassenheit und die Eleganz der Gesten, die insbesondere der Signore auf der linken Seite der Bildmitte verkörpert: Falkenblick und vornehm gebogene Nase im schmalen Gesicht, weißes Hemd, helle Hose und dazu unnachahmlich gut sitzende schwarze Socken in schwarzen Lederslippern charakterisieren eine Gestalt, die aus dunklen nachdenklichen Augen auf das Geschehen blickt.
Ist es eine Berufsmacke, daß ich eine leicht nach links verschobene Leonardosche Abendmahlszene assoziiere? Isocephalie hebt die Figurengruppe en bloc gegen den dunklen Hintergrund ab, welcher nur von einem hell gekleideten Mann unterbrochen wird. Dieser Hintergrund - hier wuchtiger Rahmen eines fein gesponnenen Spiels von Gestik und Mimik - ist Ziel manch anderer fotografischer Pilgerfahrt. Allenfalls in Schwarz-Weiß und mit sicherem Bewußtsein für Form und strenge Komposition hat sich der Fotograf auch an einer solchen beteiligt.
Die rustikalen Palazzi der Landadligen der Toskana, die sich in ihren Stadtfestungen zuweilen verbarrikadieren mußten, bieten heute nette Dekors für prima Touri-Fotos: Mutti vorn, Palazzo hinten, Gorgonzola am Abend. Doch die hier abgebildeten Einwohner eines solchen toskanischen Kleinods von Städtchen haben es nicht nötig, sich umzudrehen und ihre 500 Jahre alten Mauern anzustarren. - Es ist ihr Zuhause.
Helmut Wegener, Bielefeld (Erwachsenenbildner):
Der Platz der Steine, besetzt mit einer Gruppe alter Männer und einer Frau. Nur die Kleidung, die Stühle die Zeitung, die Uhren und die Plastiktüte erinnern an das aussitzende 20. Jahrhundert. Lichtvoll zeigen sich die Bodenplatten, kaum ein Gedanke an ihre Spur vor Jahrhunderten, vor Jahrtausenden, aus welchen Steinbrüchen sie kommen mögen?
Die dunkle Steinwand im Rücken der Gruppe wirkt nicht bedrohlich, sie läßt im Kontrast die Gruppe noch stärker hervortreten, ihre Blicke nehmen kurz Notiz vom Fotografen. Eine kurze Ablenkung, die kaum als störend empfunden wird.
Zeigen die Männer eine beobachtende Ruhe, die der Teil der Piazza bewirkt oder haben sie in ihrem Alter ihren Platz gefunden? Licht und Schatten ihrer Lebensgeschichten, ihrer Lebensweisheiten kennen sie voneinander, jeder hat seinen Platz gefunden. Dieses scheinbar vorherrschende statische Moment verdeckt kaum die po-tentielle Dynamik der Gruppe.
Das Foto zeigt eine Strukturiertheit und Differenzierung, die über eine Momentaufnahme des sozialen Gebildes hinausgeht. Trotz offensichtlicher Hierarchisierung zeigt die Gruppe eine Offenheit und Pluralität, die den Schalk hinter vorgehaltener Hand akzeptiert. Die Frau bringt Bewegung in das Leben, in das Bild, sie hat nicht die Zeit beschaulich und ritualisiert hier den Tag zu verbringen. Eine Gruppe dreier Männer fühlt sich in der kurz bemessenen Zeit in ihre Nähe, in ihren Bann gezogen. Das Ewig-Weibliche zieht sie hinan, hinab!
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