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Walter Martin
'Gen Ostland wollten sie reiten', Berlin, Reichstag, 1951

Birgit Netschert, Redakteurin der Kölner Monatszeitung 'Von unge':
Mein erster Eindruck, als ich nur die Silhouette gesehen habe, ist: hier geht es um Industriearchitektur. Auf den zweiten Blick sehe ich, um was für einen Gebäudeausschnitt es sich handelt. Aber was sind das für Konstruktionen auf dem Dach? Ich kann die nicht recht einschätzen. Ich weiß nicht, ob es nicht auch bewußt künstlerische Gestaltungen sein könnten. Wenn man einfach nur das Bild sieht, dann hat es einen hohen Grad von Abstraktheit. Auffällig ist, wie der Wolkenhimmel einen starken Kontrast zur Silhouette hervorruft und die Silhouette des Gebäudes nachzeichnet. Es ist ein Moment eingefangen, in dem die Konturen sehr unterstrichen werden. Das macht sicherlich einen besonderen Reiz dieses Motives aus.
Wenn ich mir vor Augen führe, daß es sich hier um den Reichstag handelt, muß ich sagen: ich habe keinen Bezug zu Symbolen der Staatlichkeit, so daß sich bei mir - aus diesem Blickwinkel betrachtet - nicht so schnell irgendwelche Assoziationsketten entwickeln. In diesem Bild ein Symbol für Imperialismus, heruntergekommene Staatswirtschaft oder die Zerbrechlichkeit von Macht zu sehen, ist möglich. Es kommt mir der Gedanke, daß in Kriegen vielfach Herrschaftsarchitektur, Symbole der Macht, wie staatliche Gebäude oder Kirchen überleben, nicht aber die einfachen Häuser der Bevölkerung. Das sind mögliche Assoziationen, aber auch Projektionen. Was der Reichstag historisch gesehen mit Faschismus zu tun hat, ist ein Primitivwissen, das man hat.
Aber ich hänge die historische Entwicklung nicht an ein paar Steinen auf. Die historische Entwicklung mache ich fest an menschlichen Verhaltensweisen, an Druck von oben oder Widerstand von unten. Faschismus spiegelt sich in Bildern der Opfer von Gewalt, in den erschreckenden Bildern von Konformität und andererseits in kleinen und versteckten Gesten, die den Terror unterlaufen und die ein Zeichen von Solidarität mit den Verfolgten sind. Vielfach sind dies Formen von Solidarität, die sich nicht haben fotografieren lassen. Ein menschlicher Blick rüber zu Kriegsgefangenen oder zu anderweitig Verfolgten oder eine liebe Geste, die zeigt, daß da nicht Ablehnung ist sondern Zuwendung, sind ja Situationen, zu denen es, wenn es Zeugen gab, gar nicht erst gekommen ist, weil es gefährlich gewesen wäre, also Situationen, die sich so nicht haben dokumentieren lassen.
Was mich an diesem Bildausschnitt reizt, ist die Massigkeit der Gebäudestruktur mit ihren Konturen im Kontrast zu den fragilen Resten von ehemaligen Standbildern. Man kann solche Gebäude als Symbol der Staatlichkeit, als stark und protzig darstellen, man kann in ihnen aber auch die Brüchigkeit von Macht, Gewalt und Staatlichkeit sehen, wie es in diesem Bild der Fall ist. Der hier vorhandene Bildausschnitt schafft Spannung, ist ein Blickwinkel, der auf Brüchigkeit und Vergänglichkeit hinweist.
Andererseit ist Staatlichkeit für mich nicht unumstritten. Von daher ist es mir egal, in welche Käfige die Repräsentanten des Staates sich setzen. Die sollen zum Mond fliegen, sollen Straßen fegen, sollen Kaninchenställe bauen, aber die sollen aus diesen Prunkbauten verschwinden, auch aus den zerbröckelnden Prachtbauten. Ich möchte, daß mehr Leute sagen: das sind nicht unsere Leute, die machen keine Politik für uns.

Ralf Baumgarten, Publizist, Köln:
Schweres, schwarzes Unbekannt. Drähte hakeln sich in den weiß-grauen Himmel, und das Schwarz so voller Grauen, in den Himmel sind Zeichen geschrieben.
Erst wenn man weiß, daß es sich um „Berlin, Reichtstag, 1951“, eine Fotografie von Walter Martin, handelt, lichtet sich der Koloss dem Verständnis des Betrachters. Er betitelt sein Bild „gen Ostland wollten sie reiten“.
Eigentlich ist es bedeutungslos, welches Gebäude dort verwittert, ein ganzes Volk verfiel in seinem Hochmut, seiner grenzenlosen Arroganz zur Ruine. Diese Zeugen aus dem Feuer, vom Volke selbst entfacht, erwachsen zur Mahnung. „Wie liegt die Stadt so wüst, die voll Volks war, alle ihre Tore liegen leer.“ (Klagelieder Jeremia). Wir sehen, die Mahnung ist alt, und wir wollten und wollen sie nicht hören, nicht damals und noch viel weniger heute.
Der Zeigefinger, der aus dem düsteren Bild zum Himmel zeigt, ist nun auch schon Vergangenheit. Ein Volk, so grausam, einen ganzen Kontinent mit Feuer zu überziehen, das weiß auch, schnell wieder zu genesen. Die deutschen Wunderkinder bauten auf und fuhren mit ihren Volkswagen auf ihren alten, neuen Autobahnen. Auch der Reichtstag, „dem deutschen Volke“, wurde wieder neu, ja dank Christo sogar in einem Spektakulum verpackt in gleissendes Silber, auch wieder für das Volk, „mit Bier und Eiscreme, ganz gewöhnlich“. (Bert Brecht)
Dies alles ging mir durch den Kopf, als ich die Reproduktion des Bildes in Händen hielt.
Aber was soll das Bild in unseren Tagen? Jetzt, wo wir wieder groß sind? Erschüttert dieses Bild uns wirklich heute noch? Ich glaube nicht, was wohl auch daran liegt, daß die Qualität des Bildes nicht zu faszinieren vermag. Nach längerem Betrachten wird es eigentlich überflüssig, keine Mahnung, keine Erschütterung. Vielleicht nur irgendeine Fotografie.

Ulrich Dahlinger, Arbeiterfotografie Nürnberg:
Erst einmal - ich betrachte das Bild zunächst ohne jede Zusatzinformation - erinnert mich das Foto an meine fotografischen Anfänge, an die Antennen auf bizarren, im Gegenlicht zu grafischen Konturen reduzierten Dachlandschaften. Ich vermute, jeder hat irgendwann schon solche Fotos gemacht. Ich bin etwas irritiert. Die 'Antennen' haben eine merkwürdige Form. Tierabstraktionen ragen in den durch einen Filter leicht dramatisierten Himmel. Sie passen wunderbar als Abschluß auf die ebenfalls fragmentarisch erscheinende Giebelsilhouette. Den Blickwinkel finde ich wie bei den meisten derartiger Fotografien unbefriedigend. Der Blick richtet sich etwas hilflos nach oben, um noch etwas von dem Kunstwerk zu erhaschen. Es stellt sich die Frage, ob es keine Möglichkeit gab, einen besseren Standpunkt zu suchen. Eine Beschränkung des Fotos auf die rechte Bildhälfte würde der Bildidee zu mehr Geltung verhelfen. Hier ergeben die drei Bildelemente Giebel-Kunstwerk-Himmel (gerade auch durch die explosionsartig weiße Wolke) eine spannende plakative Komposition.
Jedoch - die vorliegende Fotografie zeigt mir deutlich, daß man bei der Interpretation eines Bildes ohne Zusatzinformation allein auf seinen eigenen Erfahrungsschatz angewiesen ist. Dieser kann auch weit von der eigentlichen Bedeutung des Fotos wegführen. Bei meiner ersten Betrachtung ohne Zusatzinformation fand ich die filigranen 'Kunstwerke' auf den Dachgiebeln sehr interessant. Ich kritisierte allerdings den unvorteilhaften Blickwinkel und war der Auffassung, daß die Beschränkung auf die rechte Bildhälfte dem Motiv eine spannendere, plakativere Wirkung gegeben hätte.
Mit der Information, daß es sich bei dem Gebäude um den Reichstag handelt und die Aufnahme 1951 entstanden ist, erhält die Bedeutung des Fotos eine ganz andere Dimension. Der Zustand des Reichstags zum Zeitpunkt der Aufnahme war der Endpunkt einer Entwicklung. Ein Neuanfang und -aufbau stand bevor. Meine Kritik am Blickwinkel wird belanglos. Die Blickrichtung stimmt genau. Die Tier-Torso, von mir als Kunstwerke erkannt, werden zu Skeletten der ehemaligen Reiterstatuen auf dem Dach des Reichstags. Vielmehr noch werden sie zum Symbol für den Zustand des Nachkriegsdeutschland. Die leuchtenden Wolken erinnern an die Flammen des zweiten Weltkriegs und noch weiter zurückliegend - an den Reichstagsbrand. 'Gen Ostland wollten sie reiten.' - Verbrannte Erde hinterließen die faschistischen Armeen. Ein 'Erinnerungsfoto' - meine ich.