Forum

aus der Ausstellung 'Kreativ gegen Abschiebung'
von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann
Köln, 1994

Gert Monheim, Fernsehredakteur des WDR:
"Ich kann es nicht mehr mit ansehen, - das ganze Elend. Betriebe schließen, Geschäfte machen zu, Armut wohin Du blickst. Was war das früher schön. Samstags morgens zum Beispiel, wenn Du in die Stadt gefahren bist: Tausende strömten ‘rein, mit vollen Portemonnaies. Und nach vier bis fünf Stunden wieder ‘raus mit vollen Taschen. Heute? Nichts mehr! Tote Hose! Samstags um elf kannste Fußballspielen in der Fußgängerzone. Jeder zweite Laden dicht, für jeden Kunden wird der rote Teppich ausgerollt. Gräßlich! Selbst die Banken müssen sich kleiner setzen. Was hatten die für Paläste früher. Nichts mehr! Nicht nur die Fassade bröckelt. Die alte Pracht ist hin!
Und natürlich die Arbeitslosigkeit. Entlassungen ohne Ende. Sogar die Beamten werden schon entlassen. In den Ministerien und Ausländerbehörden. Beamte, die bisher immer alles so schön geregelt haben in Deutschland. Müssen ihr Häuschen im Grünen verkaufen, die Urlaubsreise absagen, überall knappsen. Nicht mitanzusehen.
Und ich bin schuld daran. Weil ich denen auf der Tasche liege. Die tun mir richtig leid. Werde wohl demnächst gehen. Will denen doch nicht die letzten Brocken wegessen. Ham’s ja schon schwer genug, die Leute. Können ja nich alle durchfüttern. Das ist für mich eine Frage der Solidarität. Auch oder gerade weil ich hier geboren bin. Ich muß für die was tun. Einfach entlasten. Damit die wieder auf die Beine kommen. Vielleicht kann ich von draußen besser helfen. Mit Care-Paketen oder so. Muß ich mal sehen. Vielleicht kann ich später ja mal zurückkommen, wenn es hier besser geht. Bis dann."

Hartmut Gliemann, Arbeiterfotografie Hamm:
Erster Blick: ein Mann mit einem Schild vor dem Kopf - erste Assoziation: Brett vor dem Kopf? Typischer Deutscher, fehlt nur noch „bin stolz...“? Aber irgendwie stimmt das „Ich bin in Deutschland geboren“ nicht - so würde das einer von den Deutschen nicht formulieren. Zweite Assoziation: ein Ausländer, der auf seinen Geburtsort hinweist, aber nicht sagt, auch nicht sagen will, daß er Deutscher ist.
Die Schrift an den Rand ge­drängt wie diese Bevölkerungsgruppe auch. Da hilft es nichts, mit den Füßen auf dem Boden zu stehen, wenn einem dieser entzogen wird. Aber warum will er sein Gesicht nicht zeigen? Angst? Vor was? Vor wem? Hat er das nötig? Wir sind doch ein demokratisches Land... Hier verbirgt sich jemand, aber weiß ich etwas von denen, die mir täglich begegnen und deren Gesichter ich wahrnehmen könnte? Kann ich mir deren Leben zwischen Arbeit und Wohnung, zwischen Hier-leben und Geduldet-sein eigentlich vorstellen? Gibt es vielleicht doch reale Gründe, Angst zu haben? Von wem will dieser Mensch nicht erkannt werden?
Einen winzigen Moment fühlte ich mich erinnert an die Menschen, denen von den Nazis die Schilder „Ich Judennsau...“ umgehängt und damit zum Begaffen freigegeben wurden. Aber das ist es nicht. Damals standen diese Menschen zwanghaft festgehalten im Bild, dieser hier steht allein, hat sich ins Bild gestellt - seine Lebensumstände, die Menschen erscheinen nicht, bleiben anonym. Sind wir vielleicht mitverantwortlich für diese Situation, in der er jetzt steht. Das Bild wirkt in einer Zeit von Bilderfluten zu Sensationen ungewohnt, erschließt sich kaum über den einen Blick, sondern kann zu Assoziationsketten herausfordern, sofern man als Betrachter will. Der Mensch dort entzieht sich unserem direkten Blick. Da gibt es keine Betroffenheit über scheinbare Nähe, sondern die Distanz des gesichtslosen Menschen ist es, die uns zum Nachdenken bringt, sofern wir uns dieser Arbeit unterziehen wollen.
Wie mag dieses Bild in Originalgröße auf mich wirken, im Kontext von anderen Bildern, von Ausstellungsort und genannter Zielrichtung einer Ausstellung ...? Ich kann es nicht einschätzen, obwohl ich eine vage Vorstellung habe, daß es mich dann viel eher in einen Bann zieht als in diesem kleinen Format.

Otto Roche, Vorsitzender der Bergischen Kunstgenossenschaft e.V., Wuppertal:
Mannigfache Gedanken, Gefühle und deren Mischungen, vor allem aber verquere Fragen treten sich los, wenn ich dieses schlichte und gleichzeitig plakative Foto betrachte: Wer ist dieser junge Mann hinter dem Pappschild? Wo steht er und ... bitte: in welcher Stadt? In welchem Dorf? Oder etwa in einem Atelier? Gibt es einen konkreten Anlaß, mit verstecktem Gesicht zu demonstrieren? Greift er an - oder verteidigt er sich? Wer hat das Pappschild - übrigens fehlerfrei (wie überheblich festgestellt) - geschrieben?
Ich werde versuchen, Gedanken, Gefühle, Fragen betrachtend zu ordnen, wohlwissend, daß Ordnung schrecklich langweilig sein kann und wenig hilft. Wer mag dieser junge Mann sein, der da ein großes Schild zeigt und trägt und damit sein Gesicht verdeckt? Was will er erreichen, zumindest sagen, dem Vorübergehenden, dem Einkaufenden, dem Bummelnden, dem Gleichgültigen, dem Schüler und der Auszubildenden, den Studentinnen, die in die Kneipe gehen, um ihr Examen zu feiern? Steht da Gino aus der dritten Generation aus Palermo? Oder Wanja aus Sarajewo? Oder Manuel aus Porto? Droht eine Abschiebung in seiner Familie? Wer er auch immer ist: er ist in Deutschland geboren, er will bei uns bleiben, weil er hier geboren wurde, weil er zu uns gehören will.
Unsere Gesetzgebung in Sachen Ausländer, Asylanten, Spätaussiedler ... ist sehr differenziert und kaum zu verstehen, vor allem nicht in den Familien der Betroffenen. Ein Betroffener meldet sich: “Ich bin in Deutschland geboren!“ Wer auf französischem Boden geboren wurde - dies gilt sogar für Flugzeuge - ist Franzose mit allen Rechten und Pflichten, ob es sich um den Elsässer handelt oder um Toni aus Martinique. Französisches romanisches Recht steht gegen deutsches, germanisches ... Blut gegen Boden - Boden gegen Blut. In Deutschland geboren, hat eigentlich nichts zu bedeuten. Immer noch zählt das Blut und dann erst der Paß. Das Pappschild ist der falsche Text für ein vielleicht richtiges Ziel.
Lange, sehr lange habe ich mir das „Koppelschloß“ des jungen Mannes angeschaut; eine Lupe hat schließlich geholfen, das Zeichen zu identifizieren, das der junge Mann - vielleicht zufällig - trägt. Bei zunächst ungenauem Hinsehen dachte ich, ein Zeichen der früheren DDR zu erkennen, dann dachte ich an eine japanische Automarke, an einen Sportverein ... an irgendein Logo irgendeines Clubs, einer Kirche, einer Gewerkschaft ... bis ich entdeckte: in der Mitte ein Punkt und zwei gleichmäßig gezogene Kreise drumherum. Bloße Geometrie?
Der junge Mann sucht Geborgenheit, sucht einen Kreis, in den er sich einbeziehen will, er sucht den Mittelpunkt seines gegenwärtigen und zukünftigen Lebens. Das Pappschild macht auf das Koppelschloß aufmerksam, es ist der erste oder letzte Versuch eines Einstiegs in die öffentlichkeit, weil offensichtlich alle anderen Wege nichts geholfen haben, Sackgassen waren oder Einbahnstraßen, die von anderen Schildern oder Koppelschlössern beherrscht werden - so seine Erfahrung.
Warum versteckt - verdeckt - der junge Mann sein Gesicht? Hat er Angst, entdeckt zu werden? Fühlt er sich als Verdächtiger? Wir kennen andere Schilder mit WANTED. Fürchtet er ähnlichkeiten, deren er sich schämt? Schade, daß ich mich mit seinem Gesicht nicht identifizieren kann, sondern nur mit seinem Slogan: “Ich bin in Deutschland geboren.“ Das allerdings verbindet mich mit ihm. Da gibt es weder Bedenken noch Schwierigkeiten. Ist dies aber ein Privileg - oder bloßer Zufall der Geschichte? Wieviele könnten dieses Pappschild tragen in Hongkong, Montreal oder Johannesburg, weil sie in Köln oder Stuttgart geboren wurden!
Und wieviele leben hier mit dem jungen Mann und mir, die nicht in Deutschland geboren wurden? Fußballspieler, Tennisprofis, Kaufleute, Künstlerinnen aus Prag, ärzte aus Syrien... ob der junge Mann nur einen deutschen Paß will? Wie geschrieben: leider versteckt er sein Gesicht, trotzdem solidarisiere ich mich mit ihm und will ihm gerne helfen, seine Fragen, die auch meine sind, zu beantworten, oder öffentlichkeit für ihn herzustellen, so wie's der Fotograf will. Soziale Kälte in Deutschland - ein Reizthema, das nicht oft genug thematisiert werden kann. Die Künste sind - endlich wieder - dabei.