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Jürgen Seidel
Visuelle Kontrolle beim Abpacken von Verhütungsmitteln, Schering, Berlin, 1988

Christine Nagel, Fotogruppe Ostend, Frankfurt:
Die Nüchternheit dieses Arbeitsplatzes ist erschreckend. Die Sterilität, die angespannten, konzentrierten Gesichter. Ja nicht aufsehen, sonst sind x Pillenschachteln unkontrolliert vorbeigezogen. Sich gegenseitig nur durch leichten Körperkontakt wahrnehmen. Zu dritt und doch einsam.
Ich wüßte gerne, wie die Frauen zueinander stehen. Kennen sie sich schon lange? Wie gehen sie in der Pause miteinander um? Gehen sie überhaupt zusammen zur Pause? Unterhalten sie sich während dieser Zeit, oder fühlen sie sich einfach nur noch "matt"?
Die vorgebeugte Körperhaltung und die Blickrichtung lassen darauf schließen, daß jede "nur" eine bestimmte Reihe der vorbeilaufenden Packungen kontrollieren muß. (Wenigstens müssen sie sich nicht auch noch gegenseitig kontrollieren!?) Das heißt aber, immer die gleiche Körperhaltung einzunehmen.
Ich frage mich, woher die Frauen die Kraft nehmen, diese Arbeit den ganzen Tag (?), den ganzen Monat (?) oder sogar mehrere Jahre (?) zu vollrichten.
Allein durch dieses Bild kommen mir hunderte von Gedanken, Forderungen in den Sinn, wie humane Arbeitsplätze zu gestalten sind. Die drei Frauen haben diese sicherlich auch, und ich wünsche ihnen für alle noch nicht durchgesetzten Ideen viel Kraft und Mut, nach und bei so einer anstrengenden Tätigkeit.

Marion Kosicke, Arbeiterfotografie Bremen:
Äußerlich: Bewegungslose Haltung, monoton, aber höchst konzentriert auf die Pillenpackungen stierend, die mittels Band an den drei Frauen vorbeilaufen. Jede Frau kontrolliert die nächste.> Innerlich: Die abgebildete Situation macht mich wütend, da machtlos! Das Foto macht deutlich _ direkt oder indirekt _ daß die Frauen in zweifacher Weise verantwortlich sind. Einmal indem sie diese visuelle Kontrollarbeit leisten, aufpassen, daß keine "Pillenscheibe" das Werk fehlerhaft verläßt, und zum zweiten als Konsumentinnen stellvertretend für die Frauen, indem sie die "Folgen" eines Fehlers allein tragen müßten.
Die Männer sind in jedem Fall fein raus: sie haben ihr uneingeschränktes Vergnügen beim Sex, und es sind wohl die Männer, die in erster Linie an dieser "Verhütungsindustrie" verdienen. Die Frauen haben dagegen den Streß bei der Kontrollarbeit, höchstanstrendend, sind mit Sicherheit für die wohl typische Frauenarbeit schlecht bezahlt, und haben stellvertretend für die Konsumentinnen, den alltäglichen Streß, die Pille ja nicht vergessen einzunehmen, von den Nebenwirkungen ganz zu schweigen.
Fazit: den Männern daß Vergnügen und das Vermögen (was es in der Pharmaindustrie zu verdienen gibt), den Frauen die schlecht bezahlte Arbeit und die Nebenwirkungen).

Abisag Tüllmann, Fotojournalistin, Frankfurt:
Kürzlich suchte ein Freund Fotos von drei Frauen bei der gleichen Tätigkeit. Mein Freund brauchte solche Bilder, um in einem Programmbuch zu Wagners 'Ring der Nibelungen' einen Essay über die drei allwissenden Nornen (die, bis es zerreißt, das Schicksalsseil in Händen halten), die drei Rheintöchter und die Walküren zu illustrieren.
In dem schönen und anregenden Heft sind Fotos von drei Frauen bei der Feldarbeit zu sehen, von drei Frauen, die in großen Steinmörsern Korn stampfen, die riesige Reisigbündel auf den Köpfen balancieren oder mit einer Spindel in der Hand und dem Spindel zwischen den Zähnen. Es handelt sich, wie Sie bemerken, um archaische Tätigkeiten, die Frauen seit Jahrtausenden ausübten.
Hätte mein Freund auch das Foto von Jürgen Seidel bekommen, so bezweifle ich doch, daß er es verwendet hätte. Zwar sind auch hier drei Frauen bei der gleichen Tätigkeit zu sehen. Nicht nur das, sie sind auch gleich gekleidet (weiße Kittel und grotesk komische Nonnenhauben aus Gaze über den Haaren) und, vor allen Dingen: sie haben ganz genau den gleichen Blick und die gleiche Haltung.
Im ersten Moment reizt Jürgen Seidels Foto zum Lachen. Erst beim zweiten Blick offenbart sich die völlige Isolation dieser drei Frauen, die so eng nebeneinander sitzend jede für sich eine von den drei Reihen Pillen kontrollieren, die die Maschine an ihnen vorbeitransportiert. Man begreift, daß sie sich nicht unterhalten, nicht zusammen singen können (wie früher bei den archaischen Arbeiten), daß eine Bewegung der einen die beiden andern nur stören wird. Acht Stunden lang der starre Blick auf die vorbeifließenden Antibaby-Pillen, oh je! Das Wissen besitzen heutzutage die Bio-Chemiker; diesen Frauen bleibt nur die Aufgabe eines mechanischen Kontrollauges.
Noch konzentrierter wäre, für mein Empfinden, das Foto geworden, wenn rechts ein wenig mehr Maschine zu sehen gewesen wäre, dafür links das erzählerische Nichts der Wand beschnitten wäre.